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53° 42' 26" N 7° 8' 49 Flagge der Insel
Chronik einer Insel
Insel Norderney

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Wiebke Karsten

An einem Märztage des Jahres 1809 brachte ein Fischerboot einen fremden Herrn vom Festlande herüber nach Norderney. Es war ein hagerer Mensch, der die Tonpfeife nicht aus dem Mund nahm. Als das Schiff an der Mole anlegte, war er mit seinen langen Beinen sofort an Land. Man reichte ihm die Reisetasche nach; er machte schon Anstalten, sofort weiterzugehen, da waren die französischen Zollsoldaten, die Douanen, wie man sie nannte, heran. Es galt zu prüfen, ob unter dem Fang von Buttfischen auch nicht ein Pfund Kontrebande, Kaffee, Tabak oder andere englische Waren verborgen sei, deren Einfuhr der Kaiser Napoleon verboten und untersagt hatte. Einer der Soldaten aber hielt den Reisenden an: "Votre passeport, Monsieur!"

Gelassen griff der Mann in die Tasche seines weiten Mantels und nahm ein großes Dokument mit Siegeln und Unterschriften heraus.
"Aus Bremen!" bemerkte er dabei. "Kaufmann Hansen!"
Der Franzose prüfte den Paß genau. Dann reichte er ihn zurück.
"Passee!" sagte er und gab den Weg frei.

Ohne sich aufzuhalten, ging der Fremde weiter. Als die ersten Häuser auftauchten, hielt er eine Frau, die ihm entgegenkam, an. "Wo wohnt Onnen Karsten?" fragte er. Er sprach mit kauender Mundbewegung und im fremden Tonfall. So redete kein Bremer. Bestimmt nicht! Und wenn der Franzose ihn für das gehalten hatte, was im Paß stand, so war es darauf zurückzuführen, daß ein ungeübtes französisches Ohr die Aussprache eines Norddeutschen und eines Engländers nicht auseinanderhalten konnte.

Herr Hansen hieß nämlich in Wahrheit Mister Hooper, und er war einer der Agenten, die den wohl organisierten Schmuggel in englischen Waren leiteten. Die Engländer waren zäh, die Kontinentalsperre des Kaisers stand für sie nur auf dem Papier, und sie fanden in der Bevölkerung der friesischen Inseln die lebhafteste Unterstützung. Kontrebande ins Land zu bringen, das war für sie, und nicht mit Unrecht, nichts anderes als eine patriotische Handlung. Zum Krieg-führen gehört Geld; die Kasse Englands gewann, die der Franzosen wurde dünner.

Das Haus des Schiffers Onnen Karsten lag halb zwischen den Dünen versteckt. Mr. Hooper hatte es aber bald gefunden. Er hatte in einem Lehnstuhl auf der Diele des Schiffers Platz genommen. Der alte Karsten saß ihm gegenüber an dem blitzblank gescheuerten Tisch. Die Groggläser standen noch auf der Tischplatte; die Dämmerung brach schon durch die Fenster herein. "Also, es bleibt bei meinem Vorschlag, Mr. Karsten?" sagte der Engländer. "Der Transport ist dieses Mal zu groß. Ihr würdet den Hals und wir ein Vermögen wagen! Das hier ist immer das Sicherste!" - Er machte die Geste des Geldzählens. - "Ich gehe zu dem Kommandeur der Douanen, zu dem Leutnant Marboeuf. Er ist nicht der erste, mit dem ich auf diese Weise fertig werde!" Der Schiffer machte einen Einwand: "Und wenn Eure goldenen Kugeln nicht treffen, so sitzt Ihr im Loch!"

"Sie treffen!" meinte der Engländer trocken. "Er ist empfänglich für Geld. Wir haben Erkundigungen über ihn eingezogen. Seid sicher: in der übernächsten Nacht und in der dann folgenden ist kein Douane unterwegs."

"Sicher ist nur eins", sagte plötzlich in das Halbdunkle hinein eine helle Stimme vom Herd her. "Daß er das Geld nehmen wird, nicht aber, daß in der Nacht niemand auf Posten sein wird. Er taugt nichts, der Leutnant. Es steht auf seinem Gesicht geschrieben!" Ein junges Mädchen trat an den Tisch.

"Sei still, Wiebke!" unterwies sie der alte Schiffer ärgerlich.
"Er hat kein gutes Gesicht. Nicht umsonst kujoniert er die ganze Insel!” sprach Wiebke Karsten weiter. "Wer sein eigenes Land um Geld verrät, der kann nichts taugen!"

Onnen Karsten hieb mit der Faust auf den Tisch: "Mädchen! Du bist siebzehn Jahre! Du hast zuzuhören und still zu sein. Kümmere dich nicht um Männersachen!"
Er wandte sich wieder dem Engländer zu:
"Versuchts, Herr! Aber wenn es schief geht, laßt uns aus dem Spiel!"
Mister Hooper stand auf. Der Schiffer ebenfalls. Da drängte sich Wiebke zwischen die beiden Männer. Verwundert betrachtete der Engländer ihre schlanke Gestalt, er sah in ihr Gesicht mit den blanken Augen und auf ihr flachsblondes Haar. Sie wollte wohl noch etwas sagen, aber die breite Hand des Vaters legte sich auf ihren Mund:
"Jetzt ist das Maß voll, Wiebke, oder du wirst mich kennenlernen!"

Der Wind war so stark, daß er Wiebke, die am äußersten Ende der Hafenmole stand, fast umwarf. Wolkenfetzen zeigten und verbargen im dauernden Wechsel den Mond. Angestrengt lauschte das Mädchen. Nichts war zu vernehmen außer dem stetigen Anschlagen der Brandung gegen die Steine. Seit dem frühen Abend war ihr Vater unterwegs. Er hatte den Kutter genommen, das größte seiner Boote. Und fünf Mann waren bei ihm, die verwegensten Gesellen aus dem Ort. Das war so etwas wie eine Beruhigung für das Mädchen. Aber es war schon lange über die Zeit. Gegen Mitternacht hatten sie zurück sein wollen, und jetzt war es bald drei Uhr. - Wiebke wußte nicht, waren es wirklich Schüsse gewesen, die sie vor Stunden vom Fenster ihres Hauses übers Meer hatte hallen hören. Oder war das alte Wrack auf der Höhe der weißen Düne durch die Gewalt des Windes auseinandergeborsten?

Das Herz des Mädchens schlug! Wenn nur ihrem Vater nichts zugestoßen war! Außer ihm hatte sie ja keinen Menschen auf der Welt. Die Mutter war seit vielen Jahren tot, der einzige Bruder vor einem halben Jahr ertrunken.

Die Unruhe hatte sie schließlich nicht mehr im Hause gehalten. Sie war zum Hafen gelaufen. Alles war still hier, keine Spur von den Franzosen, selbst die ständige Wache der Douanen war nicht zu sehen. Da plötzlich fuhr sie zusammen. Aus der Dunkelheit tauchte ein Schatten auf dem Wasser auf. Er wurde größer und größer, es war das mächtige Segel des Kutters. Sie atmete auf und eilte auf die andere Molenseite, wo das Fahrzeug anlegte. Aber als sie näher kam, da war es ihr, als wenn ihr Herz vor Schreck stillstehen wollte. Das Boot hatte schon festgemacht, und vorsichtig wurde irgend etwas aufs Land gebracht. Es war ein Mensch. Jetzt sah sie: sie trugen ihren Vater.

Wiebke schrie auf. Ein heller, kurzer Schrei, dann lag sie über ihm. Sofort merkte sie, er lebte noch, er war nur verwundet. Uwe Visser, der Nachbar, der mit dem Vater fuhr, berichtete mit fliegenden Worten: Alles schien zuerst gut zu gehen. Das Boot wurde voll mit Warenballen geladen, der englische Schoner lichtete die Anker, um in der nächsten Nacht wiederzukommen. In dem Augenblick hatten die Franzosen auf ihrer bewaffneten Schaluppe sie aufgestöbert. Eine Hetzjagd begann. Der alte Karsten versuchte die hohe See zu gewinnen, um später durch eine Rille im Watt nach Norddeich herüberzugelangen. Aber sie schossen, und schon der erste Schuß traf den Alten, der am Steuer saß. In der Verwirrung, die nun folgte, kamen die Franzosen ganz dicht heran. Sie machten neben dem Boot fest, und wenige Minuten später war die gesamte Ware, Ballen auf Ballen, drüben an Bord der Schaluppe. Nur darauf war es dem Leutnant Marboeuf angekommen, nur auf die kostbare Kontrebande, die auf dem Festlande mit Gold aufgewogen wurde. Auch ein Franzose konnte sie zu Geld machen! Wiebke hatte den Erzähler nicht unterbrochen. Nun stand sie auf und flüsterte tonlos: "Ich hatte es geahnt!"

Am nächsten Tage fand wie immer um die Mittagsstunde auf dem Marktplatz der Appell der Zollsoldaten statt. Wie alltäglich waren die Straßen, die auf den Platz mündeten, durch Posten abgesperrt. Wer von den Einwohnern es gewagt hätte, sich auf den Marktplatz zu schleichen, den hätte der Leutnant Marboeuf erbarmungslos krummschließen lassen.

Denn dieser Subalternoffizier spielte sich wie ein Gewaltherrscher auf. Die allerbesten Quartiere mußten gestellt werden. Alle Lebensmittel, die aufzutreiben waren, erpreßte er aus dem Ort. Vor allem aber Geld und noch einmal Geld. "Strafkontribution hierfür, Strafkontribution dafür!" so hieß es alle Tage.

Die Trommeln rasselten. In zwei Reihen war die Kompagnie der Zollsoldaten angetreten. Der älteste Korporal trat vor, um dem Leutnant Marboeuf Meldung zu erstatten. Der Offizier schwankte leicht, er war wie immer angetrunken.

Da entstand bei einem der Posten, die den Platz absperrten, Lärm. Unwillig sah der Leutnant sich um. Die Soldaten versuchten jemand aufzuhalten, aber der Betreffende lief auch schon auf Marboeuf zu. Es war ein Mädchen, es war Wiebke Karsten. Sie stand vor ihm. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Er trat einen Schritt zurück. Aber das sollte ihm nichts helfen. "Wißt Ihr, was ein Filou ist?" rief sie laut. "Ihr seid einer! Pfui!" Sie spie aus; ehe der Leutnant sich versehen hatte, war sie ganz dicht auf ihn zugetreten — und dann mit ihrer kleinen, aber festen Hand schlug sie ihm fest ins Gesicht. Erst rechts, dann links! "So!" - sagte sie wie mit einem Aufatmen. "Nun wißt Ihr, was es heißt, ein Betrüger zu sein! und heute abend seid Ihr nicht unterwegs! Weder Ihr noch irgendeiner von Euren Leuten! Merkt Euch das!" Damit drehte sie sich um, und ohne daß sie irgend jemand anhielt, ging sie ganz ruhig quer über den Platz und durch den Kordon von Soldaten. Fassungslos sah der Leutnant ihr nach. Dann wandte er sich seinen Leuten zu.

"Wegtreten!" brüllte er. "Wegtreten! Sofort!", und er war dunkelrot im Gesicht, als wenn ihn in der nächsten Sekunde der Schlag treffen würde.

In der nächsten Nacht, Schlag 12 Uhr, legte der Kutter des Schiffers Onnen Karsten an der Mole an. Der Schiffer selber saß nicht am Steuer, er lag in seinem breiten Bett, fieberte, stöhnte und fluchte gewaltig. Zum Glück hatte sich herausgestellt, daß die Wunde nur ein ungefährlicher, wenn auch stark schmerzender Streifschuß gewesen war. Statt seiner saß ein schmächtiger Bursche am Steuer. Er stand jetzt auf und war mit einem Sprung oben auf der Hafenmauer. Die Hosen waren ihm viel zu lang und schlotterten um ihn herum. Er hatte auch für einen Mann ein viel zu weißes und feines Gesicht. - Und es war überhaupt kein Mann; es war Wiebke, die für ihren Vater mit hinausgefahren war.

Alles war glatt gegangen. Kein Zollsoldat hatte sich gezeigt, keine französische Schaluppe war unterwegs gewesen. Und die Kontrebande, die der englische Segler mitgebracht hatte, war bis zum letzten Pfund Kaffee in Sicherheit. In Norddeich war alles in die wartenden Fuhrwerke verladen und im Schutze der Dunkelheit bereits unterwegs ins Hannöversche hinein.

Am anderen Tage sprach es sich wie ein Lauffeuer herum, daß der Leutnant den Befehl an den dienst-ältesten Korporal abgegeben, und sich selber, angeblich wegen einer plötzlichen Erkrankung, bei seinem Kommando in Emden gemeldet hatte.

Er kehrte auch nicht wieder zurück. Nach vielen Wochen erst kam ein anderer Offizier, ein älterer Kapitän, unter dem die Norderneyer nicht zu leiden hatten, und der nicht ein, sondern auch zwei Augen zudrückte. Das Gerücht aber ging, daß über den Leutnant Marboeuf ein Kriegsgericht gesessen hätte, daß man ihn kassiert und auf eine Festung abgeführt habe. Genaues hierüber war nicht zu erfahren. -

Nur etwas wußten die Norderneyer. Nämlich: wem sie es zu verdanken hatten, von dieser Plage erlöst zu sein: der kleinen zierlichen Wiebke Karsten. Und wenn die Burschen und die Männer sie auf der Straße oder am Strande trafen, dann grüßten sie schon von ferne. -


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