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Chronik einer Insel
Insel Norderney

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Weihnachtsausgabe Badekurier 1953
 
Seite 6

Begegnung und Besinnung

Eine winterliche Inselgeschichte

Im FischerhausLangsam und vorsichtig zog die gewaltige lange Schnellzuglokomotive ihre lange Wagenreihe über den Deich auf die Mole, die in das Wattenmeer hineingebaut war, um der Küstenschiffahrt als Anleger zu dienen.

Es sah von weitem aus, als krümme sich der Zug, während er über den Deich fuhr, vor Bedenken, sich dem nassen Element allzusehr zu nähern, jenem nassen Element, von dem ihn zuletzt nur ein starker Prellbock schützend trennte. - Was wäre wohl geschehen, wenn nicht ein besonnener Geist das Temperament der an Eile gewöhnten Lokomotive gezügelt hätte, - wenn diese in ungestümer Hast, wie vor Minuten noch, daher gebraust wäre, um am Molenkopf alles Hindernde, auch jenen starken Prellbock, zu überfahren, und sich selbst und Hunderte lebenslustiger Fahrgäste ins Verderben zu stürzen?

Ihr und den vielen, die sich ihr anvertraut hatten, wäre Tod gewesen, was ungezählten Milliarden anderer Lebewesen das einzig mögliche Lehenselement ist, - jenen Tieren, die die Fischer grausam mit großen Netzen ihrem Element entreißen, um sie auf schwimmenden Darren in Material zu verwandeln, das dem Leben auf dem festen Lande zu dienen hat.

So nahe wohnen nun Leben und Tod nebeneinander. So gefährlich ist es, sich einem fremden Element ohne einen überlegenen Geist zu nähern. So aber auch reizt es den Wagemut, ohne irgendwelche Bedenken dicht an das fremde Element heranzutreten und mit ihm als etwas Vertrautem zu rechnen.

Vertraut war dieses kleine, täglich oftmals wiederholte Geschehen am Deich auch einem Manne, der aus dem Fenster eines Abteils schaute, und der sich den Gedanken hingab, die wir eben hörten.

Vertraut war ihm dieses Geschehen am Deich, aber nicht gewohnt, denn er war lange nicht an der Küste gewesen, - vielmehr kam er weit aus dem Binnenlande, wo ihn ein unstetes, hastendes Lehen gefangen hielt, - ein Leben, das ihm keine Ruhe gelassen hatte, zu sich selbst zu kommen, - ein Leben, das ihn bis zum Ueberlaufen ausgefüllt hatte!

Ja, bis zum Ueberlaufen! Gestern nämlich war es ihm übergelaufen; er hatte plötzlich genug bekommen von der Hast seines Daseins, von dem Leerlauf seiner Lebenseile. Plötzlich hatte er erkannt, daß das, was überlief, weil es in seinem Leben keinen Platz mehr hatte, eitel Schaum gewesen war. Es war etwas gewesen, was wohl das Leben ausfüllte, aber nicht mit guter Beständigkeit erfüllte. "Heraus!" hatte da seine Seele verlangt. "Heraus aus allem, um Abstand zu gewinnen, um einige Tage Ruhe zu haben."

So war er in der Frühe aufgebrochen. Jetzt stand er beschaulich am Fenster und ließ die grandiose Weite der Küstenlandschaft auf sich wirken. Er sah das unruhige Leben und Treiben, hier, wo sogar die Unrast der Eisenbahn gezügelt wurde, - hier, wo auch der eiligste Autofahrer vorsichtig wird, - hier, wo die Männer auf den Schiffen ruhig an der Reling lehnen, um zu warten, bis ihre Stunde gekommen ist.

Mit genießender Muße nahm er seinen Koffer, - nur einen kleinen Behälter für das Notwendigste, um einige Tage Ferien machen zu können - und schritt über die Laufplanke auf den Fährdampfer, der seit vielen Jahren hier seinen Dienst tut. Bei aller notwendigen Pünktlichkeit hatte man Zeit an der Anlegemole. Man nahm Rücksicht auf die Belange des andern. Die Schiffsglocke hatte bereits geschlagen, als ein Lieferwagen noch einige Expreßgüter heranbrachte. Der Fahrer hatte keine Bedenken, daß seine Sachen nicht noch mitkämen; er hatte sich mit ihnen angekündigt. Der Käpitän würde schon warten.

Auf dem Kai standen einige eifrig diskutierende Männer, die offensichtlich etwas für sie Wichtiges zu regeln hatten. Die Matrosen standen bereit, die Laufplanke einzuziehen und die Haltetaue zu lösen.

"He! warte noch einen Augenblick!" rief einer der verhandelnden Männer zum Kapitän hinauf, "wir sind gleich so weit!" Der Kapitän schaute auf die Taschenuhr. Es war schon ein wenig über die Zeit. "Man neet to laang!" gab er zurück.

Schließlich gaben sich die Männer, die sich geeinigt hatten, die Hände zum Abschied. Die Matrosen ergriffen wieder die Planke und die Haltetaue, denn nun würde der letzte Fahrgast kommen. - Da kehrte er noch einmal um. Ein verschmitztes Lächeln ging über sein Gesicht: irgendetwas mußte er noch los werden - mochte das Schiff noch einen Augenblick warten! Er raunte seinen Partnern etwas zu, da lachten alle aus vollem Halse, und trennten sich dann mit fröhlichen Mienen, mit einem Lachen, das noch lange vorhielt, und das auch alle ansteckte, die auf dem Schiff warteten, obgleich sie garnicht wußten, worum es sich handelte. Jeder freute sich nur, weil ein anderer sich freute, und schmunzelnd gab auch der Kapitän das Signal zum Ablegen. Der Maschinentelegraf klingelte, das Wasser am Heck rauschte auf, und los ging die Ueberfahrt zur Insel.

"Warum kann es nicht immer und überall so sein?" dachte unser Passagier aus dem Zuge, dem wir nun endlich einen Namen geben wollen: nennen wir ihn "Böllermann", "Christian Böllermann aus Essen/Ruhr". Wir wissen nicht genau, ob er daher kam, aber es tut nichts zur Sache, denn wir wollen in ihm ja nur den hastenden Menschen aus dem hastenden Alltag des unruhvollen Erwerbslebens sehen; der plötzlich erkannt hatte, das irgendetwas in seinem Leben nicht stimme. - Er wußte nicht genau, was nicht in Ordnung sei. Aber er sollte es noch erfahren, denn er hatte neben der Zeit, die er sich nahm, einiges Glück.

Er kam nämlich zu Fräulein H.


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