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Weihnachtsausgabe Badekurier 1953
 
Seite 7

Es ging ihm, wie den hei ligen drei Königen: er sah einen Stern, dem er nachstrebte, und unter dem er in ihr Haus trat. Und dieser Stern befand sich im Oberlichtfenster über der soliden Haustür jener Pension "Neptun", von der Christian Böllermann bisher auch nicht die leiseste Ahnung gehabt hatte.

Ob er ein Zimmer haben könne, was es koste, ob es fließendes Wasser habe, ob aller Komfort gegeben sei, wie weit es zum Strand sei, ob viele Lokale geöffnet hätten, was heute abend los sei? - Alles dies fragte in seiner eiligen Gewohnheit Christian Böllermann das alte Fräulein, das ihm im Hausflur entgegentrat.

"Warum bin ich eigentlich so hastig?" meinte er bei sich, "warum will ich alles gleich auf einmal wissen?", und er erkannte, daß alle Beschaulichkeit, die er auf dem Deich gehabt hatte, bereits wieder im Schwinden sei, weil er mit einem anderen Menschen sprach, von dem er etwas wollte.

Das alte Fräulein sah ihn mit ruhigem, abgeklärtem Blick an, der am einem breiten bäuerlichen Gesicht. kam - einem Gesicht, das von lebenslanger Arbeit, aber auch von tiefer innerer Ausgeglichenheit zeugte.

Mit dem breiten Tonfall einer Ostfriesin, die erst im Verkehr mit den Kurgästen gelernt hat, Hochdeutsch zu sprechen, sagte sie: "Tag auch! - Nu kommens man eben herein - wir können je auch im Sitzen reden."

Umständlich, aber doch mit gewohnheitsmäßiger Gastlichkeit, ließ sie Böllermann in ihr Wohnzimmerchen eintreten.

"Im Sommer vermiete ich diese Stube auch, wenn es sein muß", sagte sie, "man im Winter mache ich es mir hier gemütlich. - Bitte, Herr..., wie war doch Ihr Name, ich habe ihn nicht recht verstanden?"

"Böllermanm aus Essen/Ruhr, - Sie sind also die Inhaberin hier, ja?" Ich habe doch jetzt Zeit, dachte er, warum konnte ich nicht einmal meinen eigenen Namen deutlich nennen?

"Oh, Herr Böllermann? - Vor vielen Jahren war auch mal ne Familje Böllermann bei mir, vielleicht sind Sie mit der verwandt?"

"Kann sein, meine Eltern waren öfter hier auf der Insel, - es ist lange her, ich war selbst auch einmal als Junge mit." "Vielleicht waren sie dann selbst auch schon mal bei mir. Ich hatte früher man ein kleines Häuschen. Das ist aber lange her. - Mit der Zeit habe ich es zu was gebracht mit all meiner Arbeit. Wie gefällt Ihnen mein Haus?"

Irgendwie bekannt kam ihm Fräulein H. vor, dem Christian Böllermann.

"Vielleicht war es so - aber was weiß man noch viel von früher. Das Leben ist darüber hinweg gegangen. Man hat keine Zeit mehr zu sich selbst."

Böllermann hatte sich in den angebotenen Lehnstuhl gesetzt und strich sich über die Augen, als wolle er etwas wegwischen. "Wieso keine Zeit zu sich selbst, Herr Böllermann? Das verstehe ich nicht recht!"

Er kam sich - ihm selbst fast unerklärlich - wie zu Hause vor in diesem Stübchen. Er machte es sich bewußter bequem in seinem Sessel. Es war nur ein gewöhnlicher Binsen-Armstuhl, der mit Kissen ausgelegt war, wie er jetzt bemerkte, und doch fühlte er sich von ihm sorglicher umfangen, als von den Klubsesseln seiner Büroeinrichtung, an denen kein guter Geist klebte, und deren Lehnen mitgenommen waren vom nervösen Greifen und Klopfen ungeduldiger Verhandlungspartner.

"Gemütlich haben Sie es hier."

"Warum soll ich's nicht gemütlich haben, Herr Böllermann? Ein jeder braucht doch seine Gemütlichkeit, und ich meine, heutzutage mehr als je!"

"Aber wer kann sie sich leisten, Fräulein H.? - Ich kann sie mir nicht leisten!"

"Wieso, Sie sind doch hier, na sagen selbst, es ist gemütlich bei mir hier in der Stube. - So, en Koppke Tee gefällig? Wissen Sie, wir sind das nu mal so gewohnt, - wenn einer kommt, dann muß er en Koppke Tee haben, das gehört zu der Gemütlichkeit mit dazu!"

"Na ja hier, bei Ihnen, aber Sie sollten mal unser Leben draußen sehen, - da gibts keine Ruhe und Beschaulichkeit. Da gibts keine Zeitl Es ist schon etwas Unnatürliches an unserem Leben - aber wie soll man es ändern? - Wie soll man es ändern, wenn man es zu etwas bringen will?" Bedächtig trank er einen Schluck vom starken ostfriesischen Tee, in dem ein dickes Stück Kandis beim Umrühren leise klang.

"Das kommt wohl darauf an, was man will, Herr Böllermann - ob man lediglich für ein vernünftiges, gesichertes Leben arbeitet, das einen unabhängig macht von seinen Mitmenschen und von aller Wohlfahrtsunterstützung, - oder ob man sinnlos zusammen zu raffen versucht, was einem erreichbar ist, ohne das man weiß, was man eigentlich damit anfangen will."

"Sinnlos ist unser Leben draußen doch wohl nicht gerade, - denken Sie doch, was alles geschaffen wird, gerade bei uns im Industriegebietl Ueberall qualmen die Schlote, überall ist produktive Arbeit, viele Güterzüge täglich rollen hinaus und bringen Reichtum und Geld ins Land."

"Reichtum und Geld, was ist das und was soll das? Ich meine, es ist nicht wichtig, daß man reich ist, sondern daß man genug hat, um so zu leben, wie man will und wie man Lust hat."

"Aber Reichtum ist Macht, Fräulein H., Wohlstand ist auch beruhigend!"

"Man Sie beruhigen sich bloß nicht, wenn Sie genug haben! Das ist es, und deshalb reiben Sie sich alle soll Sie kennen keinen Feierabend und keinen Sonntag, und doch brauchen Sie ihn, sonst wären Sie nicht hier. Es ist bloß immer zu lange, daß Sie mit Ihrer Erholung warten. Man kann nicht ein ganzes Jahr arbeiten und arbeiten und dann in vier Wochen alles wieder gut machen, was Sie sich zuviel zugemutet haben. Nee, nee, da können Sie mir garnichts erzählen! Das geht eine Zeitlang, wenn man jung ist, aber sich immer wieder Jahr für Jahr!"

"Recht haben Sie, es geht manchmal nicht mehrt"

"Und deshalb muß man mit seinen Kräften haushalten, und muß sie richtig einteilen, Herr Böllermann. Soll ich Ihnen mal erzählen, wie ich es gemacht habe? Ich stamme ja aus einer anderen Zeit, aber gültig ist das darum immer noch. - Wem die Leute man vernünftig sein wollteni"

"Erzählen Sie, Fräulein H.," sagte Böllermann, - wann hatte er zuletzt jemanden ruhig erzählen hören?" - wann hatte er jemandem ruhig zuhören können? Er kam sich vor, wie auf einer Insel des Friedens.

"Ja, Herr Büllermann, das war so: Ich war 'n junges Mädchen auf 'm Festland, in der Marsch. Mein Vater war Arbeiter bei 'm Bauern. Meist hatte er gute Arbeit auf 'ner festen Stelle, denn er war fleißig und zuverlässig, und wenn einer gebraucht wurde, wurde er zuerst gerufen. Manchmal hatte er auch keine Arbeit - dann hatte er auch kein Geld. Wir hatten früher ja auch keine großen Ansprüche: Kino gab's nicht und Radio auch nicht - für's Koppke Tee reichte es aber immer, dafür wurde vorgesorgt. - Und wenn zeitweise viel Arbeit war, um die Frühjahrszeit und Ernte herum, und im Winter mit dem Schlöten - wissen Sie: mit der Grabenräumung - im Ganzen hatte Vater doch immer wieder Zeit für seine Erholung und für seine Ruhe. Und wissen Sie, wie alt er geworden ist? Fünfundneunzig Jahre. Und da ist er auch bloß durch einen dummen Unfall ums Leben gekommen.

Blumenfenster im Wartezimmer des Kurmittelhauses
Blumenfenster im Wartezimmer des Kurmittelhauses


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